Am 11. Juni 2020 inszenierten sich Bauern in Schleswig-Holstein in Aufsehen erregender Weise: Auf einem Feld in Nordfriesland stellten sie mit 324 beleuchteten Traktoren das Symbol der historischen Landvolkbewegung nach.(Bild 2) Sie protestierten damit gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung und vor allem gegen neue Bestimmungen zur Tierhaltung und zum Einsatz von Düngern und Pflanzenschutz-mitteln.
Die Bilder aus Nordfriesland lösten eine breite Diskussion aus. Denn die Landvolkbewegung war eine völkische, antisemitische und antidemokratische Bewegung der Zwischenkriegszeit, die in den 1930er Jahren in großen Teilen in der NSDAP aufging.
Einer der Organisatoren der Veranstaltung am 11. Juni 2020, der Landwirt Jann-Henning Dircks, distanzierte sich pflichtschuldig von Nationalsozialismus und Gewalt. Bezüglich der Landvolkbewegung meinte er lapidar: »Was daraus geworden ist, da mag jeder die Geschichte anders interpretieren.«(1) Für ihn und seine Kolleg*innen soll das Zeigen des Symbols »noch nicht mal eine politische Botschaft sein«(2), es stehe für den Zusammenhalt der Landwirte.
Auch bei den Bauernprotesten am 1. September 2020 in Koblenz gegen die Konferenz der EU-Agrarminister wehte die Landvolkfahne am Rheinufer und an Traktoren, die aus Norddeutschland angefahren kamen (siehe Bilder in der Galerie). Selbst bei der Demonstration gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie am 29. August 2020 in Berlin führten Teilnehmende die Fahne mit (Bild 1).
Das Zeichen einer antisemitischen und antidemo-kratischen Bewegung wird aus der Mottenkiste geholt und soll nunmehr für Zusammenhalt und Protest stehen. Darüber reduziert man das Symbol und die Bewegung auf ein paar gefällige Aspekte. Man verfälscht ihre Geschichte und verharmlost die Ideologie, die sie vertrat.
»Aus Anlaß der bevorstehenden Haftentlassung des Landvolkführers Wilhelm Hamkens, Eiderstedt, am 1. August 1929 in Neumünster geplanten Landvolk-kundgebung, faßte ich mit Muthmann den Plan, für die Landvolkbewegung gleichzeitig eine eigene Fahne als Kampfzeichen herzustellen«(3) schreibt Peter Petersen in seiner autobiographischen Schrift »Fliegender Sand«. Der 1904 geborene und 1989 verstorbene Petersen war ein Nazi und saß zwischen 1967 und 1971 für die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) im Landtag von Schleswig-Holstein. Sein Buch »Fliegender Sand« wurde 1985 vom neonazistischen Nordland-Verlag veröffentlicht.
Die Landvolkfahne, dessen Urheberschaft Petersen für sich reklamiert, zeigt einen weißen Pflug und ein rotes Schwert auf schwarzem Hintergrund. Wilhelm Hamkens, von dem Petersen schreibt, war ein Anführer der Landvolkbewegung, die sich in den 1920er Jahren in Schleswig-Holstein und dem nördlichen Niedersachsen formierte. Am Tag seiner Haftentlassung am 1. August 1929 erwarteten ihn 1000 begeisterte Anhänger*innen in Neumünster. Zu »seiner« Fahne schreibt Petersen: »Vorbild war die schwarze Bauernfahne Florian Geyers aus dem Bauernkrieg 1524-25 mit einem Bundschuh als Zeichen. Da aber die schleswig-holsteinischen Bauern wahrscheinlich dieses mittelalterliche Symbol bäuerlichen Lebens wohl kaum verstehen würden, ließ ich mir von meinem Onkel, einem Zeichenlehrer, eine Fahne mit einem weißen Pflug und einem roten Schwert entwerfen, getreu den Nationalfarben Schwarz-weiß-rot [...]«. Der Pflug stand für die Arbeit, das Schwert für Wehrhaftigkeit und Schwarz-Weiß-Rot für die Gegnerschaft zum Schwarz-Rot-Gold der Weimarer Demokratie. Viel Ahnung von Geschichte hatte Petersen nicht: Weder war die Bundschuhfahne schwarz, noch war sie von Florian Geyer verwendet worden.
Die Landvolkbewegung entstand in jener Zwischen-kriegszeit als Protestbewegung gegen die Not der bäuerlichen Betriebe und der Landbevölkerung. Die Weltwirtschaftskrise, steigende Inflation, hohe Kredite und Missernten bedrohten viele Bauern in ihrer Existenz. Die Landvolkbewegung war durch und durch reaktionär. Sie vertrat eine Blut-und-Boden-Ideologie und propagierte die Vernichtung des angeblich »jüdisch-parlamentarischen Systems« der Weimarer Republik.
Der Historiker Uwe Danker, ein renommierter Kenner der schleswig-holsteinischen Landesgeschichte, erklärt: »Ideologisch war sie eindeutig rechtsextrem, völkisch aufgeladen und vor allem antisemitisch. Die Juden seien an allem schuld, an all ihrer Not, sowohl das internatio-nale Judentum als auch angebliche jüdische Viehhänd-ler, alle Not wurde auf Juden projiziert und in ein rassistisches, rechtsextremes Weltbild integriert.«(4)
Ihre beiden Anführer, Wilhelm Hamkens und der Dithmarscher Landwirt Claus Heim, waren Mitglieder des »Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten«, einer paramilitärischen Organisation, die die Demokratie der Weimarer Republik bekämpfte. Heim schrieb 1929 an einen Freund: »Die ethischen Werte, die der Zusammenhang von Blut und Boden erzeugen muß, werden nirgends mehr klar erkannt. Opferfreudigkeit, Selbstlosigkeit, Kampfgeist sind niedrigen egoistischen Werten rein materieller Art gewichen. Auch die unzertrennliche Verbundenheit von Religion und Rasse muß unserm nordischen Bauernvolk als dem echtesten Vertreter arischer Rasse wieder zum Bewußtsein gebracht werden.«(5)
Zu den Aktionen der Landvolkbewegung zählten Kundgebungen, Steuerboykott und Blockaden zur Verhinderung der Pfändung verschuldeter Betriebe. Um Heim bildete sich ein radikaler Flügel, der Bombenan-schläge unter anderem auf Regierungseinrichtungen verübte. Die Bewegung erfuhr nun massive Repression, spaltete sich und verlor an Zulauf und Dynamik.
Nach 1930 schlossen sich viele Landvolk-Anhänger-Innen dem aufkommenden Nationalsozialismus an. Karl Dahmen vom Norddeutschen Rundfunk schreibt: »Mit dem Niedergang der Landvolkbewegung stieg die Mitgliederzahl der NSDAP. Während die Partei bei Beginn der Bauernproteste lediglich vier Prozent bei Wahlen in Schleswig-Holstein errang, waren es 1930 schon 27 Prozent. Claus Heim und Wilhelm Hamkens grenzten sich stark von den Nationalsozialisten ab, vor allem, weil deren Herrschaftssystem den eigensinnigen Männern nicht passte. Eine Zentralgewalt, wie sie die Nazis umsetzten, lehnten sie ab. Aber die Geister, die sie riefen, wurden sie nun nicht wieder los. Schleswig-Holstein hatte als erste Provinz Preußens eine nationalsozialistischen Mehrheit im Parlament.«(6)
Der Konflikt zwischen Heim bzw. Hamkens und dem Nationalsozialismus bestand in der Hauptsache darin, dass sich die störrischen Bauernführer nicht von den Nazis in ihre Schollen hineinregieren lassen wollten. Auch pflegten Hamkens und Heim einen großbäuer-lichen Standesdünkel und standen den regionalen NS-Führungspersonen, die teils aus »kleinen« Verhältnissen kamen, überheblich gegenüber.
Die, die heute die Landvolkfahne zeigen und nicht rechts sein wollen, versteigen sich mitunter zur Behauptung, diese sei ein Symbol der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gewesen. Das ist bestenfalls Augenwischerei. Der Staat und die Gesellschaft, für die Heim und Hamkens eintraten, sollte völkisch und autoritär sein, eine Ständeordnung als Gegenentwurf zur verhassten parlamentarischen Demokratie.
Petersen schreibt in den 1980er Jahren in seinen Lebenserinnerungen zur Landvolkfahne: »Sie ist heute noch nicht vergessen und spukt noch nach 50 Jahren in den Köpfen vieler schleswig-holsteinischer Bauern und sind über sie auch mehrere Veröffentlichungen während der jüngsten Zeit erfolgt.«(7)
Tatsächlich wurde die Fahne ab den 1960er Jahren von der Notgemeinschaft Deutscher Bauern verwendet. Die Gruppe wurde vom Alt- und Neonazi Thies Christophersen angeführt, der 1973 die Schrift »Die Auschwitzlüge« veröffentlichte, eine der berüchtigsten antisemitischen Hetzschriften der Nachkriegszeit. Christophersen leitete den Nordland-Verlag, der 1985 die Erinnerungen von Petersen herausbrachte und das Symbol der Landvolkbewegung als Verlags-Logo führte. Das Symbol befand sich auch auf der Titelseite der Zeitschrift »Die Bauernschaft«, die Christophersen von 1969 bis 1996 herausgab.(Bild 7) Die Zeitschrift erschien in einer Auflage von 5.000 Exemplaren und war bis in die 1990er Jahre das Organ eines internationalen Netzwerks von AuschwitzleugnerInnen. So blieb die Fahne der Landvolkbewegung in den alt- und neo-nationalsozialistischen Szenen verhaftet.
Im neonazistischen Versandhandel taucht(e) das Symbol hin und wieder auf. Dort wird es als »Bauernfahne« oder »Bauernwappen« angeboten. Bei Aufmärschen und neonazistischen Versammlungen ist das Symbol kaum zu sehen. (Bild 8) Doch mit den Bauernprotesten und über die Berliner Demonstration gegen die COVID-19-Maßnahmen erfährt es nun neue Aufmerksamkeit.
Was bewirkt es, wenn Bauern als Zeichen ihres Protests gegen die Agrarpolitik heute ein Symbol nutzen, das historisch extrem rechts besetzt ist? Lassen sich aus der Geschichte der Landvolkbewegung und ihres "Kampfzeichens" die Aspekte von Rebellion und Widerstand herauspicken und die von Demokratie-feindlichkeit und Antisemitismus ausblenden? Kann ein historisch derart belastetes Symbol heute für etwas anderes stehen?
Bei einigen Symbolen stellt sich diese Frage. So beim Konterfei des linken Guerilleros Che Guevara (siehe Artikel in dieser Rubrik), das zeitweise von deutschen Neonazis gezeigt wurde. Doch um den Bedeutungskern des Symbol zu ändern - vom revolutionären linken Kampf hin zu einer diffusen Rebellionsromantik - brauchte es Jahrzehnte, in denen die Kultur- und Werbeindustrien das Symbol vereinnahmten und es immer beliebiger werden ließen.
Das Symbol der Landvolkbewegung hingegen ist und war exklusiv. Es wurde eigens für eine nationalistische, antidemokratische und antisemitische Bewegung geschaffen und transportiert deren Geschichte, Erinnerungen und politischen Ideen.
Eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der Frage, wie es zur Vernichtung der europäischen Juden*Jüdinnen im Nationalsozialismus kommen konnte, ist unbedingt mit der Betrachtung der politischen Strömungen verbunden, die der mörderischen Politik im Nationalsozialismus den Weg bereiteten und aktiv daran teilnahmen. Diese Aufarbeitung kommt vor allem in Nordniedersachsen und Schleswig-Holstein nicht um die Landvolkbewegung herum, die zu ihrer Hochzeit Ende der 1920er Jahre weit über 100.000 aktive Anhänger*innen hatte.
Deren Fahne nun zum bäuerlichen Widerstandssymbol ohne politische Botschaft umzudeuten und als norddeutsche Protestfolklore zu verklären, wie es die Gruppe um Jann-Henning Dircks versucht, relativiert die Geschichte. Es vermittelt, dass der Antisemitismus und die Demokratiefeindlichkeit der Landvolkbewegung heute keine kritische Betrachtung und Aufarbeitung (mehr) wert seien. Zugleich wird die Landvolk-bewegung zum historischen Vorbild erhoben und entpolitisiert.
Trotz der anhaltenden Kritik auch von Seiten der Bauernverbände halten die Bauern um Dircks an der Verwendung der Landvolk-Fahne fest. Und sie inszenieren sich als Unverstandene und Geächtete. In einer Videobotschaft vom September 2020 beklagt Dircks, dass der Deutsche Bauernverband ihn und seine Leute angeblich zu Unrecht »in die rechte Ecke drücken« wolle.(8)
Quellen:
(1) Jann-Henning Dircks, in NDR: Bauern-Protest: Eklat um Landvolk-Symbol. https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Bauern-protestieren-mit-vorbelastetem-Symbol,bauernproteste140.html
(2)ebd.
(3) Petersen, Peter: Fliegender Sand, Nordland Verlag 1985, S. 66.
(4) Historiker: 20er-Jahre-Bewegung eindeutig rechtsextrem, Interview mit Uwe Danker im Schleswig-Holstein Magazin, 15.06.2020
(5) Drei Briefe des „Bauerngenerals“ Claus Heim aus der Untersuchungshaft (1929/30), dokumentiert in: https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_15/Demokratische_Geschichte_Band_15_Essay_6.pdf
(6) Karl Dahmen in NDR, 26.06.2020: Landvolkbewegung - Für die Bauern, gegen die Regierung, https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/zeitreise/Zeitreise-Bauernfuehrer-und-Wegbereiter-fuer-Nationalsozialismus,zeitreise2726.html
(7) Petersen, Peter, a.A.o.
(8) Jann-Henning Dirks - Rückblick Koblenz 2020, https://www.youtube.com/watch?v=Ed6FUnDAU_s
Weiterführende Literatur:
Peter Wulf: »Die Not hat uns zusammengeschmiedet.« Die Landvolkbewegung Ende der 20er Jahre, in: Gerhard Paul, Uwe Danker, Peter Wulf: Geschichtsumschlungen - Sozial- und kulturgeschichtliches Lesebuch Schleswig-Holstein 1848-1946, Bonn 1996
U. Danker, S. Lehmann, J. Schlürmann, A. Schwabe: Proteste der Landvolkbewegung / Scheiternde Demokratie, in: Uwe Danker, Utz Schliesky (Hg.): Schleswig-Holstein 1800 bis heute. Eine historische Landeskunde, Husum 2014